Lilli

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Donnerstag, 27. Oktober 2016

Von der Unfähigkeit, die GLÄSERNE DECKE zu erkennen und von dem Versuch, dies erklären zu können


Lilli Cremer-Altgeld

Plötzlich war sie da. Alle sprachen von ihr. Vor allem Frauen. Alle konnten sie sehen und beschreiben. Nur für mich war sie unsichtbar. Ich fühlte mich hilflos. Dabei hatte ich mir solche Mühe gegeben.

Die GLÄSERNE DECKE!

Ich war Coach geworden. Und coachte Männer. Manager. Das war nicht neu für mich. Zuvor leitete ich ein Institut für Markt- und Kommunikationsforschung, das ich selbst gegründet hatte. Meine Gesprächspartner kamen aus der oberen Führungsriege in Politik und Wirtschaft. Meine Auftraggeber und Gesprächspartner waren Männer. Frauen habe ich erst kennengelernt als ich Mitglied der Wirtschaftsjunioren wurde. Es waren nur wenige. Von ihnen lernte ich neue Denk- und Handlungsweisen. In die gläserne Decke wurde ich noch nicht eingeweiht.

Das kam später. Als ich Coach wurde und anfing, Frauen nicht verstehen zu können. Dabei hatte ich mich gerade mit den Themen der Frauenbewegung  – wissenschaftlich – und gewissenhaft auseingesetzt. Ich spürte, dass es da ein Defizit bei mir gab. Eine der Führungsfrauen nahm mich zur Seite und erklärte mir den Unterschied: Männer sind lösungsorientiert. Frauen sind prozessorientiert. (Gut, das ist schon ein paar Jahre her – heute sehen das – manche/einige/viele? – Frauen anders.)

Schlagartig wurde mir klar: Ich muss ein Mann sein. Trotz Lippenstift und high heels. Wie soll ich das meinem Freund erklären?

Es ist sogar noch schlimmer gewesen: Ich fand lösungsorientiert richtig. Ich konnte mit prozessorientiert wenig anfangen. In der Forschung hatte ich die Aufgabe, Lösungen zu finden. Ich muss gestehen: Es machte mir Spass, Lösungen zu finden. Schnell zu finden. Nicht überstürzt. Aber schnell. Vor die Wahl gestellt, ob ich lieber mit Rollschuhen fahre, mit dem Fahrrad, mit einem Motorrad oder einem Vierräder – welchem? – hätte ich mich immer für einen Vierräder entschieden. Gerne den aus Zuffenhausen. Genau genommen: beruflich das Auto – privat gerne das Fahrrad und die Rollschuhe.

Ich komme aus einem Geschäftshaushalt. Gewiss, wir haben unsere Familienkultur. Aber das Geschäft – die Geschäfte – standen immer an erster Stelle. Probleme waren da. Probleme mussten gelöst werden. Wenn sie schnell gelöst wurden – war mehr Zeit da für das Private. Für all die privaten Prozesse, die auf uns warteten. Effizientes Denken. Was war falsch daran?

Es ist auch nicht so, dass mir Prozesse fremd sind. Ich habe sie nur anders erlebt.

Es fing mit meinem Grossvater an.  Als er starb – ich war 10 Jahre – habe ich so gelitten, dass ich krank wurde und der Arzt sagte: „Für ein Jahr die Schule verlassen!“. Ich lebte bei Freunden auf dem Land. Frei und in Prozessen. Ich durfte nicht zur Schule gehen, weil ich so in meiner Trauer gefangen war, dass ich mich nicht mehr konzentrieren konnte. Ich wusste nicht genau, was mit mir geschah und überlies mich meinem Forschergeist: Ich entdeckte die Natur dort am Rand eines Waldes mit einem kleinen Fluss und den kleinen Weihern vor der Haustür. Ich war im Grunde genommen allein. Die wenigen Kinder im Dorf (Jungen), waren in der Schule. Wenn wir miteinander Fussball spielten, stand ich im Tor.

Zumeist war ich allein. Aber nicht einsam. Ich brachte mir selbst das Schwimmen bei, durchstreifte die Wälder und entdeckte Wildschweine, die so gar nicht wild waren. Ich beobachtete wie Kaulquappen sich zu Fröschen entwickelten. Und ich lernte, dass Frösche keine Haustiere sind. Ich hatte Freiheit – und ich ging weiter auf Entdeckungsreisen, beobachtete die Ringelnatter und Blindschleichen. Ich brachte mir bei, Forellen mit der Hand aus dem kleinen Fluss zu fangen. Dann ging ich in die Küche, reinigte den Fisch, entnahm die Innereien und briet ihn in Butter. Köstlich.

Irgendwann hatte ich genug gesehen und erlebt und erklärte mich selbst für gesund. So ging ich wieder in die Schule.

Ich erlebte, dass ich anders war. Und erklärte das mit der tiefen Trauer. Und dem Jahr auf dem Land mit den Wildschweinen, Fröschen und Forellen.

Aber vielleicht fing ja alles noch viel früher an. Damals, als ich 8 Jahre war, einen Puppenwagen mit Puppe geschenkt bekam. Ich wollte schon immer gründlich den Sinn erkennen. Oder den Sinn hinter den Dingen. Und so gab ich mir sehr viel Mühe, herauszufinden, warum kleine Mädchen mit Puppen und Puppenwagen spielen. Zuerst fragte ich meine Eltern und Grosseltern. Dann die anderen kleinen Mädchen. Dann noch die Menschen, die ich für besonders klug hielt. Eine Lehrerin war auch dabei. Ihre Argumente konnten mich nicht überzeugen. Und so überlegte ich: Wer findet Puppenwagen spannend und möchte mit mir tauschen? Nicht einmal mein kleiner Bruder fand den Puppenwagen anregend. Aber ich machte mit ihm einen Deal: Ich helfe dir bei den Hausaufgaben – dafür darf ich dann mit deinem Fussball spielen und auch mit deinem Fahrrad fahren.

Ich fragte mich, warum Eltern den Jungs so kluge Geschenke machen – und den Mädels so was Ödes wie Puppen geben. Obwohl: Einige meiner Freundinnen fanden Puppen total süss. Schliesslich hatte der Puppenwagen doch noch etwas Gutes: Ich schenkte ihn dem Kinderheim. Die Mädels freuten sich. Ich mich mit ihnen.

Ich lernte, was andere Mädchen mögen – muss mir nicht gefallen. Und ich lernte, was andere Mädchen und ich mögen,  darf ich nicht haben: Mickey Mouse. Ich liebte diese Hefte. Durfte sie aber nicht lesen. Auch hier habe ich den Sinn meiner Eltern nicht erkennen können – und so suchte ich nach Alternativen. Es gab zwei sehr dicke Bücher, die nun für mich richtige spannend wurden – zuerst – mit 8 Jahren: das Jugendschutzgesetz. Damit konnte ich etwas anfangen.

Meinen Eltern erzählte ich lieber nichts davon – aber sie hätten es erlaubt, wie mir später klar wurde. Und so reifte in mir der Gedanke, Juristin zu werden. Dass man auch Politologin werden kann, lernte ich erst später und entschied mich dann dafür. Das zweite dicke Buch (11 Jahre) enthielt bekannte Schriften und Interpretationen der Weltliteratur: Goethe, Schiller, Tolstoi, Cervantes, Dante … Auch deshalb machte ich später die zwei Jahre Volontariat zur Film- und Fernseh-Journalistin, an der Bonner Uni sowie im CampusRadio eine Ausbildung zur Radio-Moderatorin und studierte Medienwissenschaft.

Meine Freundinnen fanden beide Bücher nicht so lustig und fingen an, mich bizarr zu finden. Erst Jahre später erkannte ich den Grund meiner Verhaltensweisen: Unser Schulpsychologe machte mit mir einen Test – und erzählte mir etwas von einem hohen IQ. Er hielt mich an, mit niemandem darüber zu reden, denn die anderen Menschen mögen nicht immer einen „hohen IQ“. Ich war enttäuscht, weil ich etwas hatte, was die anderen nicht mögen. Ich dachte und fühlte: Wenn ich schon nicht darüber reden darf, muss es etwas Schlimmes sein. Über Gutes darf man immer reden – über Schlimmes muss man schweigen. Also hatte ich etwas „Schlimmes“ – so etwas wie eine Krankheit. Ich habe es geheim gehalten und erst vor ein paar Jahren meiner Familie erzählt. Die auch eher sonderbar darauf reagierte. Nur mein Mathelehrer hat sich damals echt gefreut.

Wir halten fest: Ich mag Fahrräder lieber als Puppen, finde Wildschweine anregend (Wettläufe im Wald) lese juristische Fachliteratur statt Mickey Mouse – sind das die Ursachen warum ich keine gläserne Decke sehen kann?



© Lilli Cremer-Altgeld, 2016